Freundschaftsbücher gibt es seit mehr als 450 Jahren. In der Wissenschaft werden die älteren als Stammbücher bezeichnet; als Poesiealben stehen sie in manchem Bücherschrank. Der Ausdruck »jemandem etwas ins Stammbuch schreiben« ist auch heute noch vielen geläufig.
Mit achtzig kostbaren Werken gibt die Ausstellung Einblick in die Entstehungsgeschichte, Entwicklung und Überlieferung dieser literarischen Gattung. Wertvolle Einbände und künstlerisch gestaltete Papiere zeugen von der Bedeutung, welche die Unikate für ihren jeweiligen Besitzer hatten. Vorgestellt werden Alben, in denen sich unter anderem Martin Luther, Philipp Melanchthon, Galileo Galilei, Johannes Kepler, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Wolfgang von Goethe verewigt haben.
Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek verwahrt die weltweit größte Sammlung an Freundschaftsbüchern (Alba Amicorum) aus der Zeit von 1550 bis 1950.
Stammbuch – Poesiealbum – Freundschaftsbuch
Der Ausdruck, man »schreibt jemandem etwas ins Stammbuch«, ist recht geläufig, aber es ist nicht ganz klar, was der Begriff Stammbuch in diesem Zusammenhang bedeutet.
Zunächst denkt man an das Familienstammbuch, in dem die genealogischen Beziehungen unter den Familienmitgliedern nach Generationen dargestellt werden. Doch etwas anderes versteht man unter Stammbuch. Diese Bezeichnung taucht 1573 zum ersten Mal für eine literarische Gattung auf, die sich bereits um die Mitte des Jahrhunderts etabliert hatte. Vor allem im adeligen und bürgerlichen Milieu begann man damals, Stammbücher zu führen. Seit etwa 1850 kennt man diese Bücher als Poesiealben.
Daneben finden sich in anderen Sprachen Bezeichnungen wie Album Amicorum, Liber Amicorum, Thesaurus Amicorum, Philothek oder im Deutschen auch Erinnerungsbuch. Diese Alben dokumentieren den Stamm der Freunde, Verwandten und Gesellen, die sich darin eingetragen haben: Es sind Freundschaftsbücher.
Stammbuchentwicklung
Der geregelte Austausch von Widmungen, Lebensweisheiten oder Verhaltensaufforderungen unter Freunden ist nicht erst seit der Erfindung von Facebook im Jahre 2004 üblich. Bereits vor mehr als 450 Jahren begann sich ein vielschichtiges kulturelles Phänomen zu entwickeln, das sich seit der Reformationszeit, von Wittenberg ausgehend, in verschiedenen Gesellschaftsschichten etablierte. Ihm verdanken wir ein reichhaltiges Erbe an sprachlichen, musikalischen und künstlerischen Zeugnissen.
Also alles schon einmal dagewesen? Ganz so einfach ist der Sachverhalt nicht. Denn im Gegensatz zu den hauptsächlich sehr persönlichen und oft privaten Informationen, die in Internet-Plattformen eingestellt werden, blieben in den herkömmlichen Freundschaftsbüchern – also sowohl in Stammbüchern als auch in späteren Poesiealben – reine Schilderungen von Erlebtem, Naturbeschreibungen oder bloße Gefühlsäußerungen ausgeschlossen. Die Eintragungen in diese Bücher gründen sich eher auf allgemeine Wertevorstellungen und Lebensweisheiten.
Im 16. Jahrhundert war das Stammbuch zunächst nur im protestantischen Adels- und Bildungsmilieu gebräuchlich. Um 1600 findet man im rheinischen und niederländischen Ge-biet Stammbücher vor allem adeliger Damen. Das bleibt jedoch eine vorübergehende Erscheinung. Erst durch das Aufkommen des Freundschaftskultes im späten 18. Jahrhundert gibt es wieder Frauen als Stammbucheignerinnen, nun vermehrt im Bürgertum. Allmählich wird das Führen eines Freundschaftsbuches in allen Bevölkerungskreisen üblich.
Sammlungsgeschichte
Die Stammbuchsammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek umfasst ca. 1100 Exemplare aus der Zeit von 1550 bis 1950 und ist der größte Bestand dieser Art weltweit. Der Grundstock basiert auf einem Konvolut von 275 Stammbüchern aus dem Besitz des Ulmer Buchdruckers Christian Ulrich Wagner (1722–1804). Auf Veranlassung Goethes wurde die Sammlung 1805 für die Herzogliche Bibliothek von den Wagnerschen Erben für 150 Rheinische Gulden erworben.
In den folgenden Jahren wurde der Bestand kontinuierlich durch den Ankauf von kleineren Sammlungen und Einzelstücken vermehrt. Aus der Versteigerung der berühmten Bibliotheca Ebneriana des Nürnberger Patriziers Hieronymus Wilhelm Ebner von Eschenbach (1673–1752) kamen 1817 zehn Stammbücher des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hinzu. Im Jahr 1856 konnte die damalige Großherzogliche Bibliothek 45 besonders wertvolle Stammbücher des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Sammlung des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach (1781–1847) ankaufen.
Bis 1914 wuchs die Sammlung auf 543 Exemplare an, in den folgenden 50 Jahren kamen 30 Bücher hinzu. Durch Fusion der 1920 in Thüringische Landesbibliothek umbenannten Bibliothek mit der Zentralbibliothek der deutschen Klassik unter dem Dach der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur im Jahr 1969 wurde die Sammlung um 32 Alben bereichert. Von wenigen Ergänzungen abgesehen, stagnierten die Ankäufe bis Ende der 1990er Jahre.
Die seit 1991 mit dem Namen ihrer großen Förderin bedachte Herzogin Anna Amalia Bibliothek kaufte 1999 eine Privatsammlung von 79 Alben Thüringer Provenienz aus den Jahren 1850–1938 an, darunter erstmals Poesiealben auch des 20. Jahrhunderts. Bis zum Beginn der wissenschaftlichen Erschließung und Katalogisierung des Bestandes im Jahr 2008 wurden weitere 116 Alben angekauft. Seitdem konnten 274 Stammbücher auf dem Antiquariatsmarkt oder als Geschenk erworben werden.
Berühmte Einträger
Im Durchschnitt enthält ein Stammbuch 90 Eintragungen, was bedeutet, dass innerhalb der 80 hier präsentierten Freundschaftsbücher über 7000 Namen versammelt sind. Neben zahlreichen unbekannten Einträgern finden sich auch viele Namen berühmter Persönlichkeiten, wie die der beiden Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon. Man begegnet den Eintragungen von Galileo Galilei, Johannes Kepler und Wilhelm Schickard, trifft auf den Maler Johann Adam Delsenbach, den Pädagogen Christian Felix Weiße und den Moralphilosophen Christian Fürchtegott Gellert. Johann Wolfgang von Goethe und Christian August Vulpius trugen sich ebenso in Alben ein wie die Komponisten Louis Spohr und Joachim Raff. Selbst ganz illustre Namen aus dem europäischen Hochadel sind zu finden. Die Liste reicht vom englischen Königspaar, Karl I. und Henriette Marie, bis zum pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. und seiner aus dem englischen Königshaus stammenden Gemahlin Elizabeth.
Motivwelt
Die ersten Illustrationen, die in frühen Stammbüchern – also Exemplaren des 16. Jahrhunderts – zu finden sind, sind Wappendarstellungen und Abbildungen fremdartiger Trachten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kamen vermehrt Motive aus der antiken Mythologie hinzu. In Kupfer gestochene Porträts der Schreiber ergänzen um 1700 häufig deren Eintragungen, und in der Mitte des 17. Jahrhunderts kommen Veduten in Mode. Auch wenn die Stätten topographisch bestimmbar sind, handelt es sich doch meistens um idealisierte Landschaften. Zur selben Zeit werden Darstellungen mit Szenen aus dem Studentenleben immer beliebter. Biblische Stoffe vor allem aus dem Alten Testament finden sich zu allen Zeiten in Freundschaftsbüchern, im 19. Jahrhundert auch vereinzelte Beispiele der Volksfrömmigkeit. Sie sind meistens der Motivwelt des Neuen Testamentes entlehnt. Ausgesprochen selten trifft man auf Darstellungen historischer Ereignisse. In den Poesiealben des 19. und 20. Jahrhunderts sind neben Blumen auch Tiere, Kinder- und Zirkusszenen oder Märchenfiguren zu finden, aber auch Motive aus der Technik wie Eisenbahnen und Dampfschiffe.
Ausstellung in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
24. März 2012 – 10. März 2013
Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Historisches Bibliotheksgebäude, Renaissancesaal
Platz der Demokratie 1
99423 Weimar
Di–So 9.30–17 Uhr
Eintritt frei
Begleitbuch
Galilei, Goethe und Co. Freundschaftsbücher der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Ein Immerwährender Kalender
Herausgegeben im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar von Eva Raffel
Redaktion: Claudia Kleinbub
176 Seiten mit 140 Abb., kartoniert
Museumsausgabe
Nur im Verkauf der Klassik Stiftung Weimar erhältlich
Otto Meissners Verlag, Berlin 2012
Preis: 19,90 €
Buchhandelsausgabe
KV&H Verlag (Weingarten), Unterhaching 2012
Preis: 24,95 €